Der Tod ist langsam …

Ich habe den Tod über den Zeitraum von 15 Wochen und 3 Tagen begleitet. Er hat neben uns gesessen – gestanden – gelegen – er hat neben und mit uns gelebt.

Und das tut er doch bei jedem … seit Geburt an … irgendwie ist er doch immer vorhanden und das wollen wir nicht wahrhaben. Ich schreibe bewusst wir … weil ich mir sicher bin, dass viele der zig Milliarden Menschen den Tod nicht neben sich wissen wollen.

Und da nehme ich mich nicht aus. 53 Jahre alt bin ich und ich habe mir jahrzehntelang keinen Gedanken um den Tod gemacht. Sicher sind in den ersten 4 Jahrzehnten meines Lebens Menschen gestorben – Menschen, die für mich wichtig waren. Meine Omas, mein Opa, die Lieblingsgroßtante, meine Zwillingsschwester.

Heute kann ich sagen, dass jeder Tod anders ist in seinem Erleben – in meinem Erleben.

Als ich 42 Jahre alt war, starb mein Papa nach längerer Krankheit und ich habe ihn zusammen mit meiner Mama in den letzten 4 Monaten – davon 7 Wochen Hospiz – begleitet. Es war eine sehr berührende und kräftezehrende Zeit und ich bin dankbar für diese intensive Zeit. Fast 11 Jahre ist mein Papa nun tot und ich vermisse ihn , das Vermissen ist heute anders als vor Jahren und ich kann mit dem Verlust gut umgehen. Der Tod von Papa dauerte von September 2005 bis November 2007.

Der Tod ist langsam …

Über 15 Wochen habe ich meine Tochter Kim begleitet … ihre Schwester, ihr Bruder, ihr Papa, ihre Omas, Onkel, Tante, Cousinen, Großcousinen und so viele mehr aus der großen Familie des Papas, mein Mann und Schulfreunde und Freunde haben Kim in diesen 15 Wochen intensiv begleitet.

Und wenn ich ehrlich bin, dann haben wir Kim seit vielen Jahren begleitet … seit ihrer Geburt.

Und so begleitet jeder Mensch einen anderen Menschen …

Als Kim 3 Monate alt war, hörte sie auf zu wachsen und an Gewicht zuzunehmen, sie bekam einen starken schmerzhaften Hautausschlag, nach wenigen Wochen war die Kinderärztin gefühlt am Ende ihres Lateins.Als Kim 5 Monate alt war, sind wir mit ihr ins Krankenhaus gegangen und dort hat man sich erstmal des Hautausschlags angenommen und diesen relativ schnell behoben und dann ging die Diagnostik mit vielen Untersuchungen weiter … ein paar Wochen später kam die Diagnose Mukoviszidose. Wir waren überfordert und wussten nichts mit der Krankheit anzufangen. Wir gingen in Bibliotheken und kauften uns einen Pschyrembel. Wir wuchsen mit den Aufgaben … ich erst nicht.

Nach 7 Monaten als Mama zu Hause wechselte ich mit Kims Papa den Erziehungsurlaub, er war 1993 einer der ersten in unserer großen Firma … und er wurde in den folgenden 3,5 Jahren oft „belächelt“ und fühlte sich bei den Gruppen von den anderen Müttern oft „ausgeschlossen“ .. aber er hat unsere 2 Töchter fantastisch und wundervoll betreut.

Ich schweife ab … aber das ist okay … weil ich die Zeit mit meinem Ex-Mann nicht missen möchte … ein toller Papa.

Kimi hat krankheitsmässig ihre Kindheit ganz stark gemeistert … die Jugend wurde sehr viel schwerer … weil sehr viel mehr passiert ist … sei es mit ihrem Gewicht oder mit den verschiedenen gefährlichen Bakterien oder auch Schimmelpilze in der Lunge … die tägliche Therapie war sehr anstrengend für sie und sehr zeitaufwendig … ich habe sie viel getrietzt … habe sie „überwacht“ und erinnert und gemahnt und sie hat es gehasst. Es waren schwere Zeiten. Sie hat trotz vieler Fehlzeiten ein sehr gutes Abitur gemacht und konnte an der Freien Universität Berlin anfangen zu studieren. Das hat ihr sehr viel bedeutet. Gleich im ersten Semester stieß sie an ihre Grenzen und musste sich nach einem Semester exmatrikulieren lassen.

Sie war berufs- und ausbildungsunfähig.

Als Kimi knapp 6 Monate alt war, sah ich sie zum ersten Mal sterben. Sie überlebte.

Als Kim knapp 21 Jahre alt war, sah ich sie zum zweiten Mal sterben. Sie überlebte.

Als Kim 25 Jahre alt war, sah ich sie zum dritten Mal sterben. Sie starb.

Im Frühjahr 2016 fuhren wir beide zu einer Routineuntersuchung in die Mukoviszidose-Ambulanz. Ich fragte sie im Auto, ob sie denn schon mal intensiver über eine Lungentransplantation nachgedacht hätte … sie bat mich ihre Ärztin auf dieses Thema anzusprechen.

Obwohl Kim schon eine erwachsene Frau war, bat sie mich bei jeder Untersuchung und bei jedem Arztgespräch dabei zu sein.

Ich sprach die Ärztin nach der Untersuchung an – diese Ärztin kannte Kimi seit sie 6 Monate alt war – die Ärztin war sehr offen und irgendwie gnadenlos … es war der 25.4.2016 … Ich glaube ich habe hier im Blog schon mal darüber geschrieben. Am Ende des Gespräches saß ich tränenüberströmt vor der Ärztin und Kim saß ruhig auf der Untersuchungsliege. Als wir beide unten auf dem Krankenhausgelände standen, war es Kimi, die mich in den Arm nahm und tröstete.

Im Mai hatten wir das erste Gespräch mit Kims Arzt und der Tranplantationspsychologin.

Kimi, ihre Schwester, ihr Bruder, der Papa und ich.

In den folgenden Monaten musste Kimi zu jedem nur erdenklichen Facharzt, sie wurde sprichwörtlich von Kopf bis Fuß untersucht. Anfang Oktober wurde sie dann endlich gelistet. Ab sofort musste sie alle 3 Monate in die Transplantationsambulanz im Herzzentrum. Sie nahm immer jemand von uns zu den Terminen mit … mich, ihren Papa und ihre Schwester und auch mal die andere Oma. Diese Termine waren jedesmal eine Herausforderung von meistens 7 Stunden Dauer.

Mir fällt es einerseits leicht über das alles zu schreiben – andererseits ist es sehr anstrengend … es hilft.

Kim musste immer öfter ins Krankenhaus … in immer kürzer werdenden Abständen. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie jeden Monat 2 Wochen im Krankenhaus war.

Um Weihnachten 2017 ging es ihr wieder schlechter und so versprach sie ihrer Ärztin am 26.12. ins Krankenhaus zu kommen, wenn sie doch vorher bitte Weihnachten mit der Familie verbringen könne. Gesagt – getan. Am 26.12. wurde sie ins Krankenhaus gebracht und blieb bis zum 17.01. drin. An meinem Geburtstag hatte sie nicht genügend Kraft zu mir zu kommen und in den 18 Tagen bis zum nächsten Krankenhausaufenthalt hatte sie nicht das Gefühl, dass es ihr gut geht und dass ihr der letzte Aufenthalt etwas gebracht hat.

So ging sie am 04.02.18 wieder ins Krankenhaus … die Tatsache, dass sie am Sonntagabend ins Krankenhaus ging, macht im Nachhinein die Notwendigkeit sehr deutlich.

Sie ging rein um auf eine neue Lunge zu warten und ziemlich schnell war uns klar, dass sie so schnell nicht mehr aus diesem Krankenzimmer rauskommt. Wir machten ihr das Zimmer schön … mit Postern und vielen Familienbildern und einem Fernseher und Blu-ray-Player.

Gerade weine ich wieder … ich würde so gerne etwas anderes schreiben …

So mache ich jetzt einen Cut und schreibe später weiter .

20181006Petra

Heute möchte ich weiter schreiben, obwohl ich nicht weiß wo ich anfangen soll. Ich kann nicht einfach da weiter schreiben wo ich am 06.10.2018 aufgehört habe.

Ich bekomme ja nicht mal meine Gedanken auf die Reihe. Ich kann mich nicht konzentrieren. Ich denke immer wieder, dass es nicht wahr sein kann. Ich verstehe es nicht. Ich verstehe den Tod von Kimi nicht. Sie fehlt mir. Ich vermisse sie.

Eine Bekannte hat zu mir gesagt, ich soll Kimi in Ruhe ruhen lassen, sie würde es merken, dass ich sie vermisse und sie würde dadurch nicht in Frieden ruhen können.

Das kann nicht sein. Ich habe mein Kind doch losgelassen, los lassen müssen. Ich kann sie doch vermissen, auch wenn ich sie los ließ. Ich kann sie lieben, auch wenn sie nicht mehr hier ist. Nur weil sie gestorben ist, heißt es doch nicht, dass sie keine Ruhe findet, weil ich an sie denke. So viele Menschen denken an sie.

Ich liebe sie.

Ich habe mein Kind sterben sehen.

Wie soll ich das verkraften?

20190129Petra

Heute ist der 02.05.2019, heute ist Kimi 45 Wochen tot. Mir geht es scheisse … ich vermisse sie. Und ich habe Angst. Warum ich Angst habe, kann ich hier nicht schreiben. Nicht alles kann öffentlich sein.

Meine Tochter fehlt mir jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde.

Ich habe mein Kind verloren, mit dem ich alles besprechen konnte. Alles.

Nicht nur, dass ihr Tod mich zerreißt, nein … mich zerreißen auch die vielen Möglichkeiten, die ihr Tod unmöglich macht.

Mich zerreißt, dass ich kein Wort mit ihr reden kann, dass sie nicht mehr da ist, dass sie fehlt. Mich zerreißt, dass ich nicht beschreiben kann, wie es ist ohne das Kind weiterzuleben. Mich zerreißt dieser Verlust. Heute ist ein grausamer Tag.

Ich weiß nicht mehr mit wem ich reden kann.

Ich weiß es nicht mehr.

Ich möchte reden und schreiben und ich weiß nicht wie.

Petra20190502

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3 Kommentare zu „Der Tod ist langsam …

  1. »Ich möchte reden und schreiben und ich weiß nicht wie.« Danke Petra, Du hast es doch schon.
    Wir hatten im April auch einiges mit Todkrank zu tun.
    Am 23. mußten wir eine Katze mit Nierenversagen —entgegen der sprichwörtlichen 9 Leben— ist sie einmal dem Tod von der Schippe gesprungen, da hängt auch eine Geschichte von einem Witwer dran, der den Kummer des Verlusts mit Alkohol zu ertränken versuchte, und seine Katze vergaß.
    Und am 30. wurde ein Zeitgenosse beigesetzt, der eine nicht unwichtige Rolle in unserem Leben spielte,
    Ex-Ehemann meiner Partnerin,
    Inhaber zweier Firmen für die wir mal arbeiteten,
    Mentor im „Computer-Bereich“ für mich.
    Dann und wann erwähnen wir Redewendungen die der J. manchmal brachte. Und wir sind traurig und heiter gleichzeitig.
    Seine Lebens- und Krankheits – Geschichte zog sich über viele Jahre hin, Stichwort Alkoholiker, Depression ignorieren, und irgendwann hatte er Kehlkopfkrebs und das wollte er auch lange ignorieren letztendlich das volle Programm mit OP & Chemo‘ aber nach drei Jahren etwa schwand sein Lebenswille.
    Tja, der Tod muß wohl zum Leben mitdazugehören. Vielleicht auch, um sich zu freuen, dass es noch etwas gibt, für das es sich zu leben lohnt ?

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  2. Liebe Petra, hier ein Gedicht – vielleicht kennst Du es schon -, das mir sehr nah geht.

    Memento

    Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,
    Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
    Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?

    Allein im Nebel tast ich todentlang
    Und laß mich willig in das Dunkel treiben.
    Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.

    Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr;
    – Und die es trugen, mögen mir vergeben.
    Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
    Doch mit dem Tod der andern muß man leben.

    Mascha Kaléko

    Ich habe eine Tochter (21) und der Gedanke ich könnte sie verlieren, ist fast unerträglich. Ich selbst habe Krebs, doch alles was mir dabei Kummer bereitet, ist die Tatsache, dass ich sie früher oder später mit ihrer Trauer allein lassen muss und sie ihr nicht abnehmen kann. Es ist für mich so viel leichter, das Ende meines Lebens zu akzeptieren, als der Gedanke, ich müsste mit dem Tod meiner Tochter leben.

    Ich verstehe Dich und Deine Gefühle gut, und es tut mir sehr leid.

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